Schrift: Am Anfang waren die Bilder - Die Ursprünge der Schrift

Schrift: Am Anfang waren die Bilder - Die Ursprünge der Schrift
Schrift: Am Anfang waren die Bilder - Die Ursprünge der Schrift
 
Der Ursprung der Keilschrift, des am weitesten verbreiteten Schriftsystems vor dem 1. Jahrtausend v. Chr., liegt im ausgehenden 4. Jahrtausend. Die überwiegende Mehrzahl der rund 5000 erhaltenen Tontafeln und Fragmente dieser ersten Phase wurde im Eanna-Komplex von Uruk gefunden. Diese Tafeln aus ungebranntem Ton zeigen auf einer oder auf beiden Seiten Zeichen, die nach ihrer Entdeckung am Anfang unseres Jahrhunderts als Vorläufer der Keilschriftzeichen erkannt wurden. Leider wurden alle Tafeln und Fragmente im Schutt der Schichten IV bzw. III gefunden, also nie an der Stelle, an der sie ursprünglich gebraucht oder aufbewahrt worden waren.
 
Die Schrift der älteren Gruppe wird bisweilen als »Bilderschrift« bezeichnet, da einige ihrer Zeichen stark bildhaft sind; der Großteil ihrer Zeichen lässt aber ein Bild nur schwach erkennen oder ist völlig abstrakt. Bei der jüngeren Gruppe änderte sich mit der nun schneller handhabbaren Schreibtechnik auch das Aussehen der Zeichen. Diese wurden nun nicht mehr in den Ton geritzt, sondern mit dem Griffel in den Ton eingedrückt, sodass nur noch kurze gerade Linien (»Keile«) zustande kamen. Die Kurven früher bildhafter Zeichen wurden in kurze Geraden aufgelöst, was der Schrift der Schicht III insgesamt bereits den abstrakten Charakter der Keilschrift verleiht.
 
Etwa 80 Prozent aller Tafeln der beiden Gruppen stellen Aufzeichnungen einer Wirtschaftsverwaltung dar. Meist berichten sie über Einlieferungen von Gütern in zentrale Speicher und über die Verteilung dieser Güter aus den Speichern an verschiedene Beamte oder sonstige Einzelpersonen. In bestimmten Abständen wurden offenbar Einnahmen und Ausgaben miteinander abgeglichen, um den jeweils aktuellen Bestand zu erfahren. Andere Texte befassen sich mit der Haltung von Viehherden, halten das Wachstum einer Herde oder die Vergabe von Tieren an bestimmte Personen fest. Darüber hinaus wurde etwa berechnet, wie viel Gerste als Saatgut für ein Feld einer bestimmten Größe für die nächste Aussaat zurückgehalten werden musste oder wie viel Ertrag an Gerste von einem Feld einer bestimmten Größe erwartet werden konnte. Um die Fläche dieser Felder zu ermitteln, wurden deren Seitenlängen multipliziert. Auf anderen Tafeln wurde niedergelegt, wie viel Entlohnung in Form von Gerste ein Aufseher für seine Arbeitergruppe für eine bestimmte Zahl von Tagen zu bekommen hatte.
 
Bereits unter den ältesten Tafeln findet sich auch die zweite große Gruppe der archaischen Texte, die »Lexikalischen Listen«. Sie fassen Bezeichnungen zusammen, die einer bestimmten Wortgruppe zugehören, z. B. Rinder-, Schweine-, Vogel-, Fisch- oder Baumnamen, aber auch Städtenamen und anderes. Diese Listen finden sich in zahlreichen Abschriften, wobei einzelne deutlich sichtbar von Anfängern geschrieben wurden. Jahrhundertelang wurden sie immer wieder ohne jede inhaltliche Veränderung abgeschrieben, bis weit in Zeiten hinein, in denen sich die Schrift und der Schriftgebrauch so weit verändert hatten, dass ein Teil der Zeichen gar nicht mehr verständlich war. Offenbar genossen diese Texte eine besondere Hochachtung. Man nimmt an, dass es sich bei ihnen nicht nur um Texte handelte, die dem Schreibunterricht dienten, sondern dass sie auch im Prozess der Schriftentstehung eine Rolle spielten.
 
Unser Verständnis der frühen Texte steckt noch in den Anfängen. Die Schwierigkeiten rühren daher, dass die Schrift lange Zeit nur dann eingesetzt wurde, wenn ihr Gebrauch absolut unumgänglich war, und auch dann nur in einer Weise, dass allein die betroffenen Vorgänge rekonstruierbar wurden. Es fehlen daher sämtliche grammatikalischen Einzelheiten, z. B. Beugungsformen von Verben. Ohnehin wurde alles allgemein Bekannte nicht schriftlich festgehalten. Genau angegeben wurden dagegen die von Mal zu Mal unterschiedlichen Zahlen- und Mengenangaben, die Art der Güter sowie die Titel bzw. Personennamen. Wir sind deshalb auch noch nicht in der Lage anzugeben, welche Sprache sich hinter diesen Texten verbirgt. Erst wenn von der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. an gebeugte Formen ausgeschrieben werden, erkennen wir, dass es sich um die sumerische Sprache mit zahlreichen Lehnwörtern aus semitischen und anderen Sprachen handelt.
 
Die sparsame Verwendung der Schrift leitet sich aus ihrer Entstehungsgeschichte her. Denn sie ist zunächst nichts anderes als die letzte Stufe in einer Reihe von Versuchen, Informationen außerhalb des menschlichen Gedächtnisses zu speichern. Eine ältere und einfachere Methode der Bewahrung und Überlieferung von Informationen sind etwa die Siegel, die die Aufgabe hatten, durch ihren Abdruck zu erkennen zu geben, welche Person das Siegel dort angebracht hatte. Eine weitere Art der Informationsspeicherung stellen die seit dem 7./6. Jahrtausend v. Chr. bekannten Tonmarken dar, die für bestimmte Zahleinheiten stehen, etwa für »1« oder »10«. Durch Zusammenfügen solcher Tonmarken konnte jede beliebige Zahl geformt und durch Ablage in einem Beutel aufbewahrt werden.
 
Nach jahrtausendelangem, unverändertem Gebrauch kam es erst kurz vor der Entstehung der Schrift zu Versuchen, diese Speichermöglichkeiten zu erweitern, z. B. durch die Kombination beider Methoden. Einerseits wurde eine aus Tonmarken gebildete Zahl in eine Tonkugel gebettet, deren Äußeres mit Siegelabdrücken versehen wurde, andererseits wurden auch auf ersten Tontafeln Eindrücke für Zahlen angebracht und Siegel abgedrückt. Die Verwendung von Tonmarken wurde zur gleichen Zeit dadurch erweitert, dass diesen die Form von Gegenständen gegeben wurde, sodass offenbar bisweilen auch in dieser Weise eine Information über Güter festgehalten werden konnte. All diese Versuche verdeutlichen den Bedarf der Wirtschaft an umfassenderen Kontrollmaßnahmen und ließen dieses neue Hilfsmittel zum Zeitpunkt seiner »Erfindung« sogleich als die umfassendste Lösung erscheinen. Für die Schriftzeichen griff man auf Symbole und Zeichen zurück, die man aus anderen Zusammenhängen kannte. Wenn kein Vorbild zur Verfügung stand, verwendete man ein konkretes Abbild; so erklärt sich das von Beginn an bestehende Nebeneinander von bildhaften und abstrakten Zeichen. Dass die Anordnung auf den Tafeln bereits festen Regeln folgte, rührt wohl daher, dass die Wirtschaftsverwaltung in der Zeit vor der Schrifterfindung vermutlich kaum weniger komplex war als in den nachfolgenden Jahrtausenden der schriftlichen Aufzeichnung.
 
Die Schrift wurde also zunächst als Instrument begriffen, die zahlreichen Informationen der Wirtschaftsverwaltung zu speichern, wobei sie - wie die einfacheren Methoden der Informationsspeicherung - nur dann eingesetzt wurde, wenn andere Möglichkeiten nicht als ausreichend angesehen wurden. Vermutlich wurde daneben nach wie vor das Gedächtnis als das wichtigste Hilfsmittel angesehen. In diesem Sinne ist das Fehlen kultischer, literarischer oder historischer Texte nicht verwunderlich und schon gar nicht als Hinweis darauf aufzufassen, dass solche Aufzeichnungen nicht existiert hätten: sie aufzuschreiben wurde nur nicht als nötig angesehen. Es bedurfte somit eines Anstoßes von außen, dass gegen Mitte des 3. Jahrtausends die an sich im Schriftsystem angelegte Möglichkeit, gebundene Sprache wiederzugeben, ausgebaut wurde und dann zur schriftlichen Niederlegung nicht nur von Verwaltungsurkunden zur Verfügung stand.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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